# 06. Realistische Utopien

Wie können realistische Utopien unseren Sinn für die Wirklichkeit um den für die Möglichkeiten erweitern?

»Utopien« (Möglichkeitsentwürfe) werden allgemein als schöne, aber unausführbare Zukunftsvisionen betrachtet. Hier spielt auch eine nicht unerhebliche Rolle die ideologische Wertung des Werks »De optimo rei publicae statu, deque nova insula Utopia« 1516 (dt.: »Von der besten Verfassung des Staates und der neuen Insel Utopia«) von Thomas Morus, der als Begründer des Genres bezeichnet wird. Ist doch seine Fiktion eines »Gemeinwesens« (res publica) nur schwer mit einer Ideologie vereinbar, wie das quasi unanfechtbare Recht auf Privateigentum und die neoklassische Preistheorie (auf diese bin ich in meiner letzten Kolumne # 05. Wert-Ab-)Schöpfung eingegangen).

Wie ist es vor diesem Hintergrund möglich von einer »realistischen« Utopie zu sprechen? Wirkt dies doch wie ein scheinbarer Antagonismus und müsste aufgrund – angeblich alternativloser – neoliberaler Ideologien infrage gestellt werden. Nun sind aber weder das Recht auf Eigentum noch die neoklassische Preistheorie unüberwindbare Naturgesetze – sondern temporäre ideologische Kulturkonstruktionen. Und es geht auch »realistisch« nicht darum, ein Extrem gegen ein anderes vollständig auszutauschen – zumindest nicht sofort und übergangslos.

Utopien resultieren aus einer Kritik an bestehende Gesellschafts-ordnungen, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten erzeugen, wie zum Beispiel durch den Missbrauch der Eigentumsmacht und die damit verbundenen chronischen Enteignungen oder durch zunehmendes Lohndumping für immer mehr Betroffene und wachsender Vermögenskonzentration bei wenigen Rentiers. Daher sind Utopien »entscheidende Kraftquellen jeder Emanzipationsbewegung. Sie entspringen einer massiven Verneinung, meist der Empörung über Zustände, die als unerträglich empfunden werden.« So der Soziologe Oskar Negt in seinem Buch »Nur noch Utopien sind realistisch – Politische Interventionen« (2012).

Um in der Politik zu intervenieren, sind nur Utopien realistisch!

Die ideologischen Kulturkonstruktionen – Recht auf Eigentum und neoklassische Preistheorie – werden in der Regel von Realisten vertreten, die dies mit einem Wirklichkeitssinn begründen (dies oder das ist / wird / muss geschehen). Demgegenüber steht ein Möglichkeitssinn, der davon ausgeht, dass etwas geschehen könnte, sollte oder müsste (wie das Robert Musil in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« 1930/33 präzisiert hat).

Um die negativen Folgen von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu vermeiden, braucht es kritischen Widerstand und realistisch-alternative Vorstellungen von möglichst vielen Menschen. Oskar Negt meint, dass dazu erforderlich ist, dreierlei miteinander zu verknüpfen: die »Realität« einer Sache (technisches Produkt, soziales Verhältnis, Forschungsinvestition), die »alternative Möglichkeit« dazu (die darin angelegt ist, aber aus Macht- und Interessenbedingungen nicht Wirklichkeit werden konnte) und der »utopische Gehalt« – das Überschüssige der Traumphantasien (das unter der Realität keine Chance zur Verwirklichung hatte). Er plädiert für die Utopie des Konkreten, die die Realitätsvorteile der bestehenden Interessenverflechtungen aufbricht und Legitimationsgründe für Alternativen und utopische Wahrheitsgehalte schafft.

Krisen können nur dann Erkenntnisse ermöglichen, wenn sich »Alternativen abzeichnen, die der gegenwärtigen Misere, der beklagten Lebenssituationen einen neuen […] kollektiv-solidarischen Sinngehalt verschaffen«. Realpolitiker (die nur an eine Wirklichkeit glauben) haben uns an den »Rand des Abgrunds« gebracht. Wir brauchen Phantasiefähige (die sich Möglichkeiten vorstellen können).

Ich stelle mir vor, dass eine von Gerechtigkeit und Gleichheit geprägte Zukunft möglich ist. Denn es gibt ein »Richtiges Leben« im falschen, um die eigentliche Existenzform vorwegzunehmen, auch wenn dies den bestehenden Verhältnissen zu widersprechen scheint.

jk 14. August 2020

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